Interview zur VCI-Studie

Erwartungen der Kundenbranchen an die Chemie

20. November 2019 | Bericht

Wer als Unternehmer erfolgreich sein will, muss sich auf seine Kunden sowie ihre Erwartungen und Bedürfnisse einstellen. Daher hat der VCI eine qualitative Expertenbefragung von der Unternehmensberatung Santiago erstellen lassen, die die Erwartungen von sechs Kundenbranchen der Chemieindustrie analysiert. Ein Gespräch aus der Mitgliederzeitschrift des VCI, dem chemie report mit Studienleiter Dr. Georg Wolters.

Die Studie „Erwartungen der Kundenbranchen an die Chemieindustrie“ gibt es auf der VCI-Website als Lang- und Kurzfassung zum Download. © Santiago
Die Studie „Erwartungen der Kundenbranchen an die Chemieindustrie“ gibt es auf der VCI-Website als Lang- und Kurzfassung zum Download. © Santiago

chemie report: Was haben Sie konkret herausgefunden?
Georg Wolters: In den sechs wichtigsten Kundenbranchen der chemischen Industrie – Transport, Konsumgüter, Ernährung, Elektronik, Wohnungsbau und Energie – vollziehen sich fundamentale Umbrüche. Diese gehen teilweise, wie etwa in der Automobil- und Energiewirtschaft, so weit, dass die Geschäftsmodelle ganzer Industrien infrage gestellt werden. Die Umbrüche werden ausgelöst durch globale Megatrends. Nach Einschätzung der rund 60 Experten, die wir im Rahmen der Studie befragt haben, ist der dominierende Megatrend der nächsten 10 bis 20 Jahre branchenübergreifend „Ökologie und Nachhaltigkeit“. Auf den weiteren Plätzen folgen die Einhaltung von „ethischen und sozialen Standards“ sowie „Digitalisierung“.



Was verbirgt sich hinter den Megatrends?
„Ökologie und Nachhaltigkeit“ beschreiben den Wunsch vieler Menschen nach mehr Natürlichkeit und nach einem besseren Einklang von Natur und Wirtschaft. Hinter diesem Megatrend versammelt sich eine Vielzahl von Themen. Hierzu gehören unter anderem der Schutz des Klimas, ein schonenderer Umgang mit den globalen Ressourcen sowie eine verstärkte Verwendung natürlicher Rohstoffe und Produktionsverfahren. Die Menschen wollen aber nicht nur besser verstehen, „was“ sie konsumieren. Sie wollen auch besser verstehen, „wie“ die Produkte hergestellt werden. Dieser Anspruch verbirgt sich hinter dem Wunsch nach der Einhaltung von „ ethischen und sozialen Standards“.

Wie unterscheiden sich die Sichtweisen der Kundenbranchen?
Die Auswirkungen der Megatrends auf die einzelnen Branchen sind unterschiedlich. So steht etwa die Automobilindustrie vor allem vor der Herausforderung, neue Antriebstechnologien zu entwickeln. Gleichzeitig gilt es, bei der Digitalisierung und Automatisierung des Verkehrs nicht den Anschluss zu verlieren. Die Auswirkungen auf die Automobilhersteller, Zulieferer und Händler werden fundamental sein. Entsprechend groß ist der Veränderungsdruck. Die Ernährungsindustrie steht hingegen vor der Herausforderung, transparenter und natürlicher zu werden. Neben dem eigentlichen Produkt werden auch die aktuell gewählten Verpackungen, ähnlich wie in der Konsumgüterindustrie, durch die Verbraucher zunehmend kritisch bewertet. Die schnelle Entwicklung von Alternativen ist hier gefordert. Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass, trotz aller Unterschiedlichkeit dieser Entwicklungen in den Branchen, die daraus resultierenden Anforderungen an den „Vorlieferanten“ Chemieindustrie sehr ähnlich sind.

Die aktuellen Herausforderungen der Chemiebranche: Dieses Bild von Künstler Volker Valerian Motsch entstand auf der VCI-Mitgliederversammlung 2019.
Die aktuellen Herausforderungen der Chemiebranche: Dieses Bild von Künstler Volker Valerian Motsch entstand auf der VCI-Mitgliederversammlung 2019. © Volker Valerian Motsch

Welche Anforderungen sind das?
Um künftig erfolgreich zu bleiben, müsste die chemische Industrie aus Sicht der Kunden-branchen zehn zentrale Anforderungen erfüllen. Sie umfassen alle Bereiche der Branche und ihrer Unternehmen. Die Anforderungen reichen von neuen Geschäftsmodellen über flexiblere Produktionsanlagen und die Vermeidung von Gefahrstoffen bis hin zur Offenlegung von Rezepturen. Sie könnten so die gesamte DNA der Chemiebranche verändern.

Welche dieser Anforderungen sind aus Ihrer Sicht besonders wichtig?
Um dauerhaft erfolgreich zu sein, wird man sich mit allen zehn auseinandersetzen müssen. Auf vier möchte ich exemplarisch eingehen: Der Aufbau einer geschlossenen „Kreislaufwirtschaft“ ist für viele Kundenbranchen ein zentrales Anliegen. Dies umfasst die „technische“ Dimension – von der Sammelinfrastruktur bis zur Aufarbeitungsindustrie – sowie die „ chemische“ Dimension der Zusammensetzung der Ausgangsmaterialien. Hier wünschen sich die Kundenbranchen einen stärkeren Beitrag der Chemieindustrie. Außerdem ist „Transparenz gewährleisten“ in vielen endkundennahen Branchen „die“ Kernforderung. Die chemische Industrie liefert heute, was gesetzlich vorgeschrieben ist, zum Beispiel Sicherheitsdatenblätter. Das wird morgen nicht mehr ausreichen. Die Endkunden wollen in immer stärkerem Umfang wissen, „was“ sie konsumieren. Diesen Wunsch müssen die Unternehmen bedienen und fordern von ihren Vorlieferanten die notwendigen Informationen. Das dritte Thema lautet: „Gefahrstoffe vermeiden“. Es gibt einen branchenübergreifenden Anspruch, Wirtschaft und Natur stärker miteinander in Einklang zu bringen und gesund zu leben. Dieser Wunsch nach mehr Natürlichkeit resultiert in der Anforderung an die Chemieindustrie, Gefahrstoffe möglichst zu vermeiden oder zu substituieren. Schließlich wünschen sich die Kundenbranchen verstärkt Lösungen für ihre individuellen Probleme. Dafür müsste die Chemieindustrie „flexibler produzieren“. Dies wird zu einer differenzierteren Produktlandschaft führen – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Architektur der Produktion. Kleinere, flexiblere Anlagen werden große, bestehende Anlagen ergänzen müssen. Mittelständische Strukturen könnten hier teilweise großindustriellen Lösungen überlegen sein. „Numbering-Up“ könnte das neue „Scaling- Up“ werden.

Was raten Sie den Chemiebetrieben?
Die Chemieindustrie steht in den nächsten Jahren vor erheblichem Anpassungsbedarf. Aus den Megatrends erwachsen neue Anforderungen der Endkunden. Diese üben aktuell auf die Kundenbranchen der chemischen Industrie erheblichen Veränderungsdruck aus. Diesen Veränderungsdruck geben die Kundenindustrien ihrerseits über neue oder gesteigerte Anforderungen an ihre Vorlieferanten weiter. Die Branche hat bereits mit dem Umbau begonnen. Die Ergebnisse der Interviews zeigen aber, dass noch ein gutes Stück des Weges vor den Chemieunternehmen liegt. Eile ist geboten, um das Feld nicht Wettbewerbern aus dem Ausland zu überlassen.

Die Fragen stellte Oliver Claas.

Aus der Studie: 10 Anforderungen an die Chemieindustrie

1. „Stärker in Lösungen denken”

2. „Stärker vom Endkunden her denken”

3. „Kreislaufwirtschaft ermöglichen”

4. „Lebenszyklusperspektive etablieren”

5. „Transparenz gewährleisten”

6. „Gefahrstoffe vermeiden”

7. „Ethische und soziale Standards einhalten”

8. „Flexibler produzieren”

9. „Geschäftsmodelle neu denken”

10. „Kommunikation verbessern”

Dieser Artikel ist im chemie report 11/2019 erschienen.


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