Gastbeitrag von Stefan Haver, Evonik Industries AG und Vorsitzender des VCI-Nachhaltigkeitsboards

Marktwirtschaft und nachhaltige Transformation

13. April 2021 |

Langfassung zu diesem Dokument

Von Gottfried Wilhelm Leibniz ist uns der Satz überliefert, der Mensch lebe in der „besten aller möglichen Welten“. Für viele seiner Zeitgenossen klang das im späten 17. Jahrhundert wie blanker Hohn, angesichts massiver Sorgen und Nöte. Trotzdem hat Leibniz an der Idee festgehalten. Seine Begründung: Sicher sei die Welt nicht vollkommen, wohl aber der Mensch mit der Fähigkeit gesegnet, nach Vervollkommnung zu streben. Kein Zweifel: Leibniz war Optimist.

Stefan Haver © Evonik Industries AG
Stefan Haver © Evonik Industries AG

Er war es nicht nur, er hat den Begriff auch gleich noch selbst erfunden. Es gehörte für ihn zum Wesen der Wissenschaften, zu forschen, in dem festen Bewusstsein, dass Lösungen möglich sind.

Noch Jahrhunderte später können wir uns eine gute Scheibe abschneiden von dieser Art eines rationalen Optimismus. Wir werden ihn brauchen. Angesichts von Covid-19 mag die Diskussion um Erderwärmung, ökologische und soziale Nachhaltigkeit für eine kurze Zeitspanne in den Hintergrund treten. Aus der Welt ist sie damit nicht. Wir erleben, wie zur Abmilderung der Pandemiefolgen allein in Europa Billionen von Euros an zusätzlichen Schulden aufgenommen werden. Mittel, die im Rahmen des Green Deal nicht mehr zur Verfügung stehen. Kein Zweifel: Die Gemengelage ist nicht übersichtlicher geworden. Dabei bleibt die nachhaltige Transformation aller Gesellschaftsbereiche in der Balance ökonomischer, ökologischer und sozialer Zukunftsanforderungen die große Aufgabe unserer Zeit. Laut Global Risks Report des World Economic Forum betreffen die gravierendsten Risiken der vorausliegenden Dekade Nachhaltigkeitsthemen. An vielen Stellen werden Produzenten wie Konsumenten umdenken müssen, um Wachstum und Wohlstand für heutige und zukünftige Generationen zu sichern. Die Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland als Innovationsschmiede für viele weltweit dringend benötigte Schlüsseltechnologien ist dafür eine Grundvoraussetzung. Produkte und Lösungen „Made in Germany“ leisten einen unverzichtbaren Beitrag, klimaschädliche Emissionen weltweit zu reduzieren oder gar zu vermeiden. Klar ist deshalb: Ohne die Industrie geht es nicht.

Umso bemerkenswerter, wie sehr die Debatte um nachhaltige Entwicklung hierzulande dominiert wird von Zukunftsskepsis, Industriefeindlichkeit und Verzichtsbotschaften. Da ist viel zu hören vom „Ausstieg aus“, der „Abkehr von“, dem „Ende des“. Deutlich weniger vom „Einstieg in“, den „Chancen auf“, dem „Aufbruch zu“. Lösungen sind möglich? Das ist eine Grundhaltung, die bei weitem nicht selbstverständlich ist. Heute so wenig wie zu Leibniz‘ Zeiten. Was also braucht es, um ein solches Verständnis auf breiter Basis zu entwickeln? Hilfreich wäre schon einmal, auf vermeintlich einfache Wahrheiten zu verzichten und stattdessen auf einige grundsätzliche Einsichten zu setzen. Die folgenden erscheinen mir dabei von besonderer Bedeutung:

1. Niemand weiß heute mit Gewissheit zu sagen, welche Technologien sich auf dem Weg in eine gute Zukunft als die zielführendsten erweisen werden.

Technologieneutralität ist eine wesentliche Voraussetzung im Umgang mit zukunftsoffenen Problemstellungen. Das klingt nach einer Binsenweisheit. Ist es aber nicht. In weiten Teilen der Gesellschaft erfahren interventionistische Politikansätze wieder wachsenden Zuspruch. Das reicht von einem lauten Nachdenken über die Herausbildung von „European Champions“, über den Ausschluss wichtiger Brückentechnologien, bis hin zu begehrlichen Seitenblicken auf Chinas Industriepolitik unter der Überschrift „Made in China 2025“. Gänzlich unbestritten ist, dass dem Staat eine wichtige Funktion zukommt, Innovationspotenziale über gezielte Anreize und einen verlässlichen Politikrahmen zu stimulieren. Zu hinterfragen aber ist der Ansatz, dies mit festgelegten Prioritäten auf bestimmte Branchen und Technologien zu tun. Vieles spricht dafür, dass eine breite Innovationsförderung und der Verzicht auf allzu enge Vorfestlegungen bessere Dienste leisten, wenn es darum geht, zukunftsfähige Arbeitsplätze in einem Hochtechnologieland wie Deutschland zu sichern und den Übergang zu klimaschonenden und zirkulären Wirtschaftsformen zu beschleunigen. Deshalb sollte sich staatliche Förderung generell auf die Erforschung und Entwicklung von Zukunftstechnologien konzentrieren, nicht auf einzelne Branchen oder Industrien.

2. Angesichts begrenzter Ressourcen wird entscheidend sein, den Mitteleinsatz so zu organisieren, dass sich die bestmöglichen Effekte zu den günstigsten Kosten einstellen.

Eng verbunden mit so verstandener Technologieoffenheit ist das Bekenntnis zu ökonomischer Freiheit und marktwirtschaftlicher Ordnung. Die bröckelnde Popularität auch dieser Prinzipien steht in auffälligem Missverhältnis zu der historischen Erfahrung, wonach keine andere Wirtschaftsordnung auch nur annäherungsweise ähnliche Erfolge vorzuweisen hat: ob nun beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen oder in der Mehrung gesamtgesellschaftlichen Wohlstands. Kein noch so elaboriertes Sammelsurium von Verboten und Anreizen, keine Einzelfallregelung kann die Wirksamkeit von Preissignalen dauerhaft und ohne Nebenwirkungen ersetzen. Allen früheren Unkenrufen zum Trotz zeigt das gerade auch das Beispiel der europäischen CO2-Bepreisung. Dadurch entwickelt sich die jeweils günstigste Form der CO2-Vermeidung zu einem handfesten Kostenvorteil im Wettbewerb. Vorausgesetzt, der Markt wird nicht durch zusätzliche Regulierung wieder außer Kraft gesetzt. In welchem Maße politische Steuerung und fehlender Konkurrenzdruck effektiven Klimaschutz verteuern können, zeigt das Beispiel der deutschen Energiewende. Die wird auch auf absehbare Zeit nicht mehr zu einem Exportschlager werden. Denn nur wo ein Markt ist, im Wettbewerb um die besten Ideen, ist nachhaltige Entwicklung ohne unnötig hohe Kosten möglich. Das ist umso wichtiger, als staatliche Investitionen nur einen Bruchteil der für die ökologische Transformation benötigten Mittel ausmachen werden. Der bei weitem größte Teil entfällt auf private Investitionen. Hier gilt: Zuviel Dirigismus hilft nicht dem Umweltschutz. Er schadet ihm – nachhaltig.

3. Die Lösung unserer wesentlichen Zukunftsfragen ist niemals monothematisch. Wir werden damit leben müssen, notwendige Zielkonflikte dauerhaft in Balance zu halten.

Maximaler Nutzen zu geringst möglichen Kosten ist das eine. Das andere ist, diese Fortschritte auch in der kürzest möglichen Zeit zu erreichen. Das gelingt weder mit einer Rhetorik des erhobenen Zeigefingers noch mit dem bloßen Herbeisehnen einer besseren Welt. Unsere Antwort auf die Dringlichkeit der Klimadebatte darf nicht Aktionismus sein. Sie muss darin bestehen, dass Nachhaltigkeit selbst zum Wachstumstreiber wird. Kein Feel-Good-Faktor aus der Kategorie „Tue Gutes und rede darüber“, sondern unverbrüchlicher Bestandteil unternehmerischen Handelns. Damit ist aber auch klar, dass die grüne Transformation in ihrer Ausrichtung auf nur eine Dimension von Nachhaltigkeit zu kurz greift. Nachhaltige Transformation passiert gleichzeitig in den drei Dimensionen von ökonomischem, ökologischem und gesellschaftlichem Nutzen. Dazu gehört auch, Zielkonflikte zwischen einzelnen Ansätzen immer wieder neu zu verhandeln und zum Ausgleich zu bringen. Das heißt nicht, unterschiedliche Nachhaltigkeitsziele gegeneinander auszuspielen. Es heißt, das Gebot kohärenten Handelns ernst zu nehmen. Denn ohne wirtschaftliches Wohlergehen steht es auch nicht gut um wirksamen Umweltschutz und soziale Stabilität. Umgekehrt sind Nachhaltigkeitsrisiken längst als Finanzrisiken erkannt, zeigt sich der Wert sozialer Stabilität unmittelbar auch in den anderen beiden Dimensionen.

4. Je emotionaler die gesellschaftliche Debatte um die Stärkung einer „grünen Nische“ geführt wird, desto magerer wird der Ertrag im Sinne nachhaltiger Entwicklung sein.

Die Pluralität des Themenfeldes Nachhaltigkeit ist auch der Grund dafür, warum ein stumpfes „Je-mehr-desto-besser“ in einzelnen Bereichen nicht funktioniert. Ein Beispiel: Im Rahmen der emotional aufgeheizten Debatte rund um den Klimaschutz verschärft sich die polemische Zuspitzung auf Klimaretter und Klimagegner. Dazwischen ist nichts. Ihre politische Entsprechung finden solche biopolaren Entwürfe in der Forderung nach einem effektiven „Greenlisting“, bzw. „Brownlisting“ von Wirtschaftsaktivitäten an den Kapitalmärkten. Die schwerwiegenden Nebenwirkungen solcher Maßnahmen werden gerne ignoriert. Denn statt eines dringend erforderlichen Mainstreamings von Nachhaltig steht dann am Ende der Fokus auf eine exklusive, aber wenig wirkungsstarke grüne Nische. Um Nachhaltigkeit in der Breite zu stärken, ist es notwendig, die Leistungsfähigkeit insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen nicht zu überdehnen. Das gilt für Berichtsanforderungen ebenso wie für notwendige Anpassungszeiträume und Brückentechnologien. Der Hinweis auf diese Zusammenhänge nützt dem gemeinsamen Ziel nachhaltiger Entwicklung weit mehr, als laute Forderungen, die Dosis beliebig zu erhöhen. Maximale Forderungen erzeugen keine maximalen Wirkungen. Oder wie schon Paracelsus wusste: Die Dosis macht das Gift.

5. Wenn Emissionen keine Ländergrenzen kennen, dann müssen wir auch die Lösungen global denken und umsetzen.

Die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beim Klimaschutz wird maßgeblich mit bestimmt von den Anspruchsniveaus auf den weltweiten Märkten. Auch die vielbeschworene Vorbildfunktion Deutschlands findet ihre natürlichen Grenzen in der globalen Wettbewerbsfähigkeit. Die schlichte Folgerung daraus lautet: Wir dürfen Klimapolitik nicht im nationalen Alleingang denken, wir müssen das mindestens einmal als Europäer tun. Das ist nicht eine Frage des kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern des größten gemeinsamen Nutzens. Verlässliche politische Rahmensetzungen, gesamteuropäisch und möglichst international sind effektiver als jeder Goldstandard auf einzelstaatlicher Ebene. In diesen Zusammenhang gehört dann auch eine weitere Überlegung. Sie lässt sich am treffendsten umschreiben, mit dem, was die Amerikaner als „Biggest bang for the buck“ bezeichnen: Sinnvoller als die letzten Prozente an Effizienzsteigerung aus modernen Hochtechnologieanlagen herauszuquetschen könnte es sein, in die Aufrüstung veralteter Infrastrukturen in Entwicklungsländern zu investieren. Jeder eingesetzte Euro kann hier ein Vielfaches an Wirkung entfalten. Gerade beim Klimaschutz geht es um den klugen Einsatz moderner Technologien, um ein umfassendes Verständnis von Produkten entlang ihres gesamten Lebenszyklus: von der Rohstoffquelle, über Produktion und Weiterverarbeitung, bis hin zu Entsorgung, Verwertung oder Recycling. Nachhaltige Transformation erfordert Think big statt Kleinklein.

Was also folgt aus alledem? Zunächst einmal, dass wir die Herausforderungen einer Welt mit künftig mehr als zehn Milliarden Menschen nur mit einer gesunden industriellen Basis werden meistern können. Mit der notwendigen Akzeptanz, mit hinreichender Investitionssicherheit und Verlässlichkeit über den Tag hinaus. Innovationen und massive Investitionen in neue Technologien sind der Motor erfolgreicher Zukunftsgestaltung. Hier sollte kluge Förderung ansetzen. Dazu gehört, neue Technologien auch regulatorisch als Fortschritte zu behandeln, anstatt sie durch zusätzliche Hürden auszubremsen. Die bei weitem größten Barrieren in Deutschland aber bleiben der im internationalen Vergleich hohe Strompreis und die unzureichende Versorgung mit Energien aus erneuerbaren Quellen. Gute Investitionsförderung zu Marktbedingungen, das heißt deshalb vor allem auch: CO2 muss teurer werden, Strom billiger - sektorenübergreifend, international und wo das an seine Grenzen stößt zumindest unter den Bedingungen eines effektiven Carbon-Leakage-Schutzes.

Was unter solchen Vorzeichen für die Zukunft alles möglich ist, zeigt exemplarisch eine Forschungspartnerschaft von Siemens und Evonik. Dabei geht es um einen Prozess, den Experten auch als künstliche Photosynthese bezeichnen. Ziel ist, in einer Kopplung von Elektrolyse und Fermentation überschüssigen Ökostrom zu nutzen, um unter Verwendung von CO2 und mithilfe von Bakterien wertvolle Chemikalien zu produzieren - günstig und umweltfreundlich. Nur ein Beispiel, das zeigt, was Klimaschutz ganz praktisch vermag. Deutschlands Vorreiterrolle in der nachhaltigen Transformation steht und fällt mit der Innovationskraft, die deutsche Unternehmen über Jahrzehnte aufgebaut haben. Wo so viel Erfahrung zusammenkommt mit dem politischen Willen zu einer sozial und ökologisch verantwortlichen Gestaltung von Zukunft, da werden faszinierende Dinge möglich. Es gibt also gute Gründe, mit Leibniz optimistisch zu bleiben. Und weiter gemeinsam zu arbeiten an der besten aller möglichen Welten.

Stefan Haver, Mitglied im Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung, Vorsitzender des VCI-Nachhaltigkeitsboards und Head of Sustainability der Evonik Industries AG.